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Kolumbien: Alles oder Nichts? Das Gesundheitssystem

"Wir übernehmen die Kosten für die Operation, aber den Herzschrittmacher müssen Sie zahlen. Diese Leistung ist nicht abgedeckt!" sagt der Angestellte der Krankenkasse freundlich aber bestimmt.

Eine unvorstellbare Situation? Für mich, die aus dem Sozialstaat Deutschland Zugezogene, ja – bis zu dem Zeitpunkt, an dem ich es selbst erlebte. Auch für viele Kolumbianer ist diese "Logik" nicht nachvollziehbar und immer mehr wehren sich dagegen.

Kopfschüttelnd verlasse ich das Büro der Krankenversicherung in Bogota. Dies ist nicht die erste – für mich völlig unverständliche - Situation, die wir erleben, seit Miguels Vater im Krankenhaus ist. Ich frage mich ernsthaft, was die Krankenkasse überhaupt bezahlt? Wie kann es sein, dass Windeln, eine Nachtkrankenschwester und für eine Operation notwendiges Zubehör selbst gezahlt und organisiert werden müssen? Wofür ist man dann überhaupt versichert? Was machen Familien, die die finanziellen Mittel nicht haben, diese Dinge zu bezahlen und was geschieht dann erst mit Patienten, die nicht versichert sind?

Ich lerne, dass es die "tutela" gibt. Dieses Rechtsmittel, dem magische Wirkung nachgesagt wird, ist mir bisher unbekannt.

Ich treffe Stella, eine befreundete Ärztin, die im Auftrag des Staates die Einhaltung der Leistungen im Gesundheitswesen, speziell die der Krankenkassen, überprüft. Sie erklärt mir die Theorie des Gesundheitssystems.

In Kolumbien gibt es, wie auch in Deutschland, ein Krankenkassensystem – EPS - (4,5 Mio. Versicherte), in dem jeder Arbeitnehmer automatisch versichert ist – mit dem Unterschied, dass es in Kolumbien privatwirtschaftlich organisiert ist. Derzeit erzielen die Kassen einen Gewinn von über 3,5 Millionen Euro jährlich! Arbeitslose, Indianer und Arbeitnehmer ohne offiziellen Arbeitsvertrag können sich staatlich über "sisben" versichern (derzeit 31 Mio. Menschen). Aus Unwissenheit, weil die Gemeinden nicht genug über sisben aufklären, ist die Anzahl der Nicht-Versicherten erschreckend hoch (über 8 Mio.).

Die kolumbianische Verfassung garantiert jedem Bürger den Schutz seines Besitzstandes, seiner Gesundheit und seiner körperlichen Unversehrtheit. Dies beinhaltet, dass jeder Kolumbianer, ob sisben, EPS oder nicht versichert das Recht auf Gesundheit hat, d.h. dass ihm die notwendigen Medikamente, Behandlungen und Gerätschaften bezahlt werden und dass jeder in jedem Krankenhaus aufgenommen und behandelt werden muss.

Soweit die Theorie. Die Praxis haben wir jedoch in den letzten Wochen ganz anders erlebt. "Diese Leistung ist nicht abgedeckt!"

Bis Anfang der Neunziger Jahre gab es nur eine staatliche Krankenversicherung (serguro social). Ständig knapp bei Kasse, wirtschaftspolitischer Willkür ausgesetzt und als Monopolist auf dem Markt waren ihre Leistungen miserabel. Nur wohlhabende Kolumbianer konnten sich finanziell ihr Recht auf Gesundheit sichern. Dieser Missstand führte dann 1991 zu einer großen Reform, die das Gesundheitswesen für Privatanbieter öffnete. In den begleitenden Gesetzten wurde festgelegt, welche Leistungen von der Kasse zu tragen sind und für welche der Patient selbst aufkommen muss. Jedoch sind diese Regelungen sehr oberflächlich. Weiterhin wurde den Kassen vorgeschrieben, die Gesundheit der Bevölkerung zu steigern.

Um dies zu unterstützen wurde die "tutela" eingeführt, ein Rechtsmittel, das es ermöglicht vor Gericht die notwendige, von der Krankenkasse abgelehnte Hilfe, einzuklagen. Auch hier gibt es wieder Theorie und Praxis, denn nur langsam verbreitet sich das Wissen über die tutela. Viele Kolumbianer wissen bis heute nicht, was ihnen genau zusteht und wie sie es einklagen können. Den Schritt zu Gericht zu "wagen", dort vorzusprechen bzw. ein Schreiben aufzusetzen, schreckt viele Menschen ab. Auf Grund der jahrzehntelangen Missstände im Gesundheitswesen neigen viele Kolumbianer dazu den einfachsten Weg zu gehen. "Wenn mir das Medikament von der Krankenversicherung nicht zusteht, dann ist das eben so und ich kaufe es selber." (Soweit das finanziell möglich ist.) Vom Tag der Einklage darf der Prozess der tutela maximal eine Woche in Anspruch nehmen.

Kurz nachdem Miguels Vater aus dem Krankenhaus nach Hause kam wurde die tutela zu seinen Gunsten ausgelegt. Gab es die Wochen zuvor in der Klinik nichts – keine Windeln, keine Betreuung und nur die allernotwendigsten Medikamente und Nahrung – so bekamen wir jetzt alles. Plötzlich glich sein Zimmer dem einer Privatklinik: eine Krankenschwester für den Tag, eine für die Nacht, eine Atemtherapeutin, eine Physiotherapeutin, eine Logopädin, drei Sauerstoffgeräte, ein Tropf für die Ernährung usw. Ist es für die Krankenkasse günstiger erst einmal alles abzulehnen und dann im Notfall, wenn der Patient seine Rechte per tutela bekommt, dies alles zu bezahlen? Wie es aussieht schon, denn die Krankenkassen scheinen mit der Mentalität ihrer Landsleute zu rechnen und lehnen erst einmal so viele Leistungen wie nur möglich ab.

Alles oder Nichts? Ist das tatsächlich die Frage, die man sich in Kolumbien im Krankheitsfall stellen muss?

Heute gibt es 300 neue tutelas jeden Monat und die Verbreitung schreitet weiter voran. Hier möchte auch Viventura ansetzen und gemeinsam mit dem Sozialprojekt Exito Verde Aufklärung betreiben. In Zukunft sollen Kurse für Erwachsene in Manitas (die Mehrheit der Menschen dort ist nicht versichert oder im "sisben") angeboten werden, in denen die Erwachsenen ihre Rechte erfahren und Selbstvertrauen für die Durchsetzung einer tutela erlangen sollen. Denn tutelas sind für alle im Grundgesetzt geregelten Rechte einsetzbar.

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